Gunnar Garleff: 1910 – 2012: Die Friedenskirche als Zeugnis des liturgischen Wandels
Der Raum als Dimension der Liturgie
„dass nichts anderes darin geschehe,
denn das unser lieber Herre Jesus selbst mit uns rede
durch sein heiliges Wort
und wir wiederum mit ihm reden
durch das Gebet und Lobgesang.“
(Martin Luther)[1]
In seiner Predigt zur Einweihung der Torgau Schlosskirche bestimmt Martin Luther die Funktion des Kirchenraums als Ort des Kommunikationsgeschehens des Evangeliums. Vielfach ist in der liturgischen Diskussion seither darauf hingewiesen worden, dass nach reformatorischen Verständnis Kirchen und Kirchenräume an sich keine heiligen Orte sind. Sie sind Funktionsgebäude, ihre wesentliche Funktion ist es Gottesdienstraum sein. Im Gottesdienst bieten sie einen besonderen Raum für die liturgische Dramaturgie, in der die Gemeinde ihr Gottesverhältnis zur Darstellung bringt und miteinander kommuniziert. Obwohl Kirchen ontologisch keine Heiligkeit eignet, sind sie doch Räume des Heiligen, da in ihnen heilige Handlungen vollzogen, heilige Text gelesen und heilige Zeiten begangen werden und sich die Gemeinschaft der Heiligen vergegenwärtigt.
Die religiöse Funktionalität des Kirchenraumes erscheint vielfältig komplex, insofern in ihnen zwar Christus außerhalb des liturgischen Zusammenhangs nicht ontisch präsent erscheint, aber dennoch Spuren religiösen Erlebens in ihnen wirksam sind.[2] Zugleich suchen Menschen Kirchen als Orte der Stille für die eigene persönliche Andacht auf und verbinden Menschen mit kirchlichen Räumen ihre biographisch-religiösen Erfahrungen an entscheidenden Übergängen des Lebens (Taufe, Einschulung, Konfirmation, Trauung, Beerdigungen u.v.m.). Kirchen sind daher weniger heilig, vielmehr geheiligt. Ihre Heiligkeit ist eine zugeschriebene und wahrgenommene, die jenseits eines dogmatischen Diskurses im Anschluss an Luthers Kirchenraumverständnis angesiedelt ist.
Die Kirche am Ort ist in der Wahrnehmung vieler mehr als ein Ort liturgischer Dramaturgie. Sie ist vor allem ein Ort und ein Raum der Ordnung und Beständigkeit. Veränderungen am Kirchenraum sind meist mit mehr oder weniger großen Konflikten und Schmerzen verbunden. Zudem werden Kirchen seit einiger Zeit als Ort mit musealem Charakter entdeckt und kirchenpädagogisch „präsentativ-symbolisch“[3] erschlossen. Der Kirchenraum ist dementsprechend wohl durchdacht gestaltet und scheint vor allem in seiner baulichen Beständigkeit zu funktionieren.
Diese zugeschriebene Ordnungsfunktion mit präsentativ-symbolischen Verweis auf das Heilige steht gleichwohl in Spannung zur gottesdienstlichen Funktion des Raumes. Der erste Zweck des Kirchenraums ist nach Martin Luther, „dass unser lieber Herr Jesus selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort.“ Diese Charakteristik bedeutet ja, dass in diesem Raum Christusbegegnung stattfindet. Dass Christusbegegnung dabei zu allererst dialogisches Wortgeschehen ist, bedeutet nicht, dass der Raum des Geschehens unerheblich ist. Denn menschliche Wahrnehmung geschieht in der Regel über mehrere Sinne, nicht nur über den Hörsinn. Zum Hören tritt sehen, riechen, schmecken, tasten hinzu. Diese Sinne beziehen sich besonders auf die Raumwahrnehmung. Was ich beim Hören im Raum sehe oder rieche, wie ich sitze, liege, stehe hat Einfluss auf das, was ich hörend wahrnehme. Aber der Raum ist nicht nur ein Wahrnehmungsraum, er ist zugleich Bewegungsraum. Menschen sind leibräumliche Wesen und alles Leben ist von Raum umgeben und findet im Raum statt. Dies gilt entsprechend auch im Gottesdienst. Dieser ist eben nicht nur Wahrnehmung sondern auch Bewegung. Wer an einen Gottesdienst teilnehmt bewegt sich im Gottesdienstraum: er begeht ihn beim Eintreten, er steht und sitzt, er wandelt beim Abendmahl und ggf. bei der Taufe. Das Kommunikationsgeschehen Gottesdienst ist daher immer zugleich ein Raumgeschehen. Der Raum wirkt dabei auf die liturgische Inszenierung des Evangeliums. Seine Gestalt zeugt zugleich vom Gottesdienstverständnis seiner Zeit.
Exemplarisch wird dieser Zusammenhang an den drei Raumgestalten der 1910 erbauten Friedenskirche in Heidelberg-Handschuhseim deutlich, die in einem ersten Abschnitt dargestellt werden, ehe dann deren aktuelle Gestaltung als „predigender Raum“ beschrieben wird. Schließlich soll im abschließenden Teil die liturgische Dimension des Raumes für die feiernd-kommunizierende Gemeinde entfaltet werden.
Die Friedenskirche zwischen Historismus und Moderne (1910)
In der 106jährigen Geschichte der Friedenskirche in Handschuhsheim hat diese inzwischen drei unterschiedliche Innenraumkonzepte erlebt. Zur Einweihung 1910 war ihr liturgisches Zentrum ein Kanzelaltar. Der Altar war aus Stein gebaut. Dahinter die ebenfalls steinerne Kanzel. Das Taufbecken von der Gemeinde aus gesehen rechts daneben. Die liturgische Anordnung der Prinzipalstücke bildet ab, um was es im Gottesdienst 1910 ging, so schrieb der Handschuhsheimer Pfarrer Raupp vor Beginn des Kirchbaus: „Es ist unser Wunsch, …., dass die neue Kirche vor allem den Bedürfnissen der evangelischen Gemeinde und insbesondere des evangelischen Gottesdienstes und also hauptsächlich der Predigt alle Erleichterung durch gute Akustik gewähre.“[4] Evangelischer Gottesdienst ist Predigt. Alles andere liturgische Handeln ist demgegenüber nachrangig und so ist alles ausgerichtet auf die Kanzel und den Prediger. Gleichzeitig ist der Altar aber fest und unbeweglich. In seiner Anordnung unter der Kanzel wird die Einheit des sichtbaren und unsichtbaren Wortes deutlich.
Die besondere Qualität dieser Anordnung formuliert das sog. Wiesbadener Programm aus dem Jahr 1881, das für die Konzeption der Handschuhsheimer Friedenskirche leitend war:
„1. Die Kirche soll im allgemeinen das Gepräge eines Versammlungshauses der feiernden Gemeinde, nicht dasjenige eines Gotteshauses im katholischen Sinne an sich tragen. 2. Der Einheit der Gemeinde und dem Grundsatze des allgemeinen Priesterthums soll durch die Einheitlichkeit des Raums Ausdruck gegeben werden. Eine Theilung des letzteren in mehrere Schiffe sowie eine Scheidung zwischen Schiff und Chor darf nicht stattfinden. 3. Die Feier des Abendmahls soll sich nicht in einem abgesonderten Raume, sondern inmitten der Gemeinde vollziehen. Der mit einem Umgang zu versehende Altar muss daher, wenigstens symbolisch, eine entsprechende Stellung erhalten. Alle Sehlinien sollen auf denselben hinleiten. 4. Die Kanzel, als derjenige Ort, an welchem Christus als geistige Speise der Gemeinde dargeboten wird, ist mindestens als dem Altar gleichwerthig zu behandeln. Sie soll ihre Stelle hinter dem letzteren erhalten und mit der im Angesicht der Gemeinde anzuordnenden Orgel- und Sängerbühne organisch verbunden werden.“[5]
Friedenskirche, Innenraum 1910 (Photo: Friedensgemeinde)
Das Wiesbadener Programm als Gegenprogramm zum Eisenacher Regulativ wollte die Konzentration der Gemeinde auf die gemeinsame Mitte. Diese Mitte ist das gepredigte Wort, die Kanzel dominiert die Raumgestaltung. Das Wiesbadener Programm war das einer „konsequent gestaltete[n] Predigtkirche.“[6] Es rückt die hörende Gemeinde ins Zentrum. Die Orgel samt Sängerempore hinter der Kanzel und damit im Angesicht dient ebenfalls diesem Ziel. Diese Anordnung begründet Cornelius Gurlitt gegen die Kritiker des Wiesbadener Programms:
„‘Sehen ist halb hören‘, sagt das Sprichwort, das man umdrehen kann in ‚Nicht sehen ist schlecht hören‘. ‚Unsere Ohrmuscheln sind nun einmal nach vorn gerichtet! ‘ sagte Architekt Professor Frentzen. Friedrich Spitta fordert nun, dass der Chor im Angesicht der Gemeinde stehe, da er als Sänger die geistige Beziehung zu seinen Hörern brauche, durch die die Musik allein ergreifend und somit erbaulich wirken kann. Man müsse ihn dorthin stellen, weil er von dort besser verstanden werden kann.“[7]
Trotz der geforderten Aufhebung einer Teilung zwischen Chor und Schiff fällt auf, dass der Altarbereich deutlich herausgehoben ist. Der Altar selbst ist nicht nur aus Stein, er ist mit seinen Seitenschranken nach links und rechts sowie seiner erhöhten Position (drei Stufen) als Zone des Heiligen herausgehoben. Auch die reichhaltigen Verzierungen im Rundbogen über Kanzel und Altar fallen ins Auge. Die Kanzel und der Altar, dazu die Orgel sind quasi wie ein Thron des Wortes Gottes gestaltet (Hebr. 4,16). Die Gemeinde tritt nah heran und hält doch zugleich Abstand. An der Ausgestaltung wird deutlich, dass die Friedenskirche von Architekt Herrmann Behagel, der sich dem Historismus und damit auch dem Eisenacher Regulativ verpflichtet fühlte, zwar im Hinblick auf die Anordnung der Prinzipalstücke in Orientierung am Wiesbadener Programm entworfen wurde, in der konkreten Gestaltung aber deutlich Spuren des Historismus aufweist.
Die Gestaltung der Friedenskirche ist 1910 statisch. Die Funktion des Raumes ist damit ganz auf das Wort ausgerichtet. Die Dramaturgie des Gottesdienstes ist die eines Wechselspiels zwischen Chor/Prediger/Liturg und Gemeinde. Gleichwohl wird auch in Bezug auf das Wort Distanz gewahrt.
Der Heilige Bezirk (1960)
Diese Grundordnung nach dem Wiesbadener Programm wurde bei der ersten großen Innenrenovierung im Jahr 1960 radikal aufgebrochen. Zum einen werden die Spuren des Historismus – soweit irgendwie möglich aus der Kirche entfernt. Zugleich werden die Prinzipalstücke neu angeordnet. Weiterhin steht das Geschehen im Altarraum im Zentrum aller Überlegungen. Gemeinde konstituiert sich von Wort und Sakrament her und nicht aus sich selbst heraus. Insofern wird bei der Raumgestaltung das Hauptaugenmerk darauf gelegt, dass die Sicht auf den Altarraum von möglichst allen Plätzen der Friedenskirche möglich ist.
Friedenskirche – Zustand nach Renovierung 1960 (Photo: Friedensgemeinde)
Die Mächtigkeit des Altars, der zwar noch als Zentrum des Gebets verstanden wird, wird von jeder Zuschreibung eines Opferaltars befreit. „Die Zeit ist vorbei, da schuldbeladene Menschen an den Altären ihre unzureichenden Ersatzopfer brachten. Was wir an Opfer darzubringen haben, sind unsere dankbaren Herzen, die im Gebet Gott loben und preisen für das eine große Opfer, durch das wir erlöst sind. Viel stärker tritt darum bei unserem Altar die Form des Tisches hervor. Es ist der Tisch des Herrn, zu dem wir gerufen sind, um im Geheimnis des Sakraments die Gemeinschaft mit dem Lebendigen und Gegenwärtigen zu erfahren.“[8] Auch die Kanzel findet einen neuen Ort und eine neue Gestaltung. Zwar behält sie den „Kanzelkorb“ bei, aber die ursprüngliche Anordnung wird aufgehoben. Die Kanzel rückt näher an die Gemeinde. „Das Wort, das von dort verkündet wird, geht nahe an die Gemeinde heran, weil es sie ‚angeht‘.“[9] Das Taufbecken bleibt neben dem Altar angeordnet, gleichwohl aber nicht auf Ebene der Gemeinde sondern im erhöhten Altarraum. Es ist damit sichtbares Erinnerungszeichen an die Taufe.
Zwischen der ersten und zweiten Innengestalt der Friedenskirche liegt eine liturgische Entwicklung. Zwar bleibt die Predigt der zentrale Bestandteil des Gottesdienstes, was an der herausgehobenen neuen Position der Kanzel deutlich wird, aber es wird 1960 die Bedeutung des Geschehens am Altar stärker beachtet. Der Gottesdienst ist nicht nur Hören, er ist auch Schmecken und Beten. Und in diesen Funktionen – dass macht die Neugestaltung des Altars deutlich wird die Konstitution der Gemeinde stärker betont: Am Altar versammelt sich die Gemeinde (im Halbkreis), was die Tradition der Wandelkommunion ablöst. Der Kirchenraum ist ganz auf die sonntägliche Stunde ausgerichtet und gibt dem Gottesdienst Orientierung. Die entfernte Malerei ist jenseits geschmacklicher Argumente auch eine Konzentration auf das Hören des Wortes und auf das Altargeschehen. 1960 bleiben als Bilder in der Kirche allein die Kanzeltafeln, welche die Symbole der Evangelisten darstellen, im Auge der Gemeinde. Alle weiteren Bilder befinden sich in den Fenstern und damit im Rücken der Gemeinde. Der Raum dient dem Hören.
Die baulichen Veränderungen in der Friedenskirche waren nicht allein liturgisch-dramaturgischen Geschichtspunkten geschuldet, sondern wesentlich motiviert durch die Neuanschaffung einer Orgel mit Rückpositiv. Sie verdeutlicht den Stellenwert der Kirchenmusik im Gottesdienst, die in diesem Fall quasi die Kanzel aus dem Zentrum verdrängt hat. Was entsteht ist das Nebeneinander von Singen und Sagen des Evangeliums. Zugleich aber zeigt der Raum die Trennung dieser beiden Bereiche.
Die Dynamisierung des Raumes (2012)
Innenraum ab 2012 (Photo: Friedensgemeinde)
Nicht weniger einschneidend als die Gestaltung der Friedenskirche von 1960 im Gegenüber zu ihrer Ursprungsgestalt war die Neugestaltung der Friedenskirche im Jahr 2012. Gemäß dem Wiesbadener Programm werden Altar, Kanzel und Orgel wieder in einer Achse angeordnet. Dabei rückt der Altar weiter in die Gemeinde hinein und bildet mit dem nun ebenfalls in der einen Achse stehenden Taufstein das Zentrum des Kirchenraumes. Die Kanzel, als „geschwungenes Band mit Ablage“ gestaltet, tritt in ihrer äußeren Gestalt demgegenüber deutlich zurück. Ihre Positionierung auf einer den Kirchenraum mit der Orgelempore verbindenden Stufenlage löst zudem das Nebeneinander von Kirchenmusik und Predigt in ein Miteinander auf. Die Stufenanlage verbindet die verschiedenen liturgischen Elemente (Gebet, Verkündigung, Musik) und erlaubt, dass Chor und Gemeinde, Pfarrer/in und Kantor/in nun eine direktere Kommunikation haben können.
Die neue liturgische Gestaltung nimmt dabei gleichsam Ideen und Entdeckungen der Vorgängergestalten auf. Neben dem Wiesbadener Programm von 1910 ist dies in Bezug auf die Gestaltung von 1960 die Stärkung des zentralen Raumes in der Kirche. So konstatiert der Oberbaurat Hermann Hampe in Bezug auf die dem Kirchenraum eingeschriebene Idee: „ein innerer, wenn man so will, „heiliger Bezirk“ eingesenkt zwischen die „berghohen“ Emporen, in dem die Gemeinde auf eine durchaus evangelische Weise mit den Stätten des Altar- und Taufsakramentes und dem Ort der Wortverkündigung, der Kanzel, sinnfällig zusammengeschlossen ist.“[10]
Die wesentliche Motivation für diese Gestaltung aber ist die liturgische Bewegung nach 1960. Der Gottesdienst und damit der Kirchenraum wird befreit von seiner Ausrichtung auf die Kommunikation zwischen Wort (Prediger) und Gemeinde. Vielmehr rückt nun die Gemeinde als kommunizierende und feiernde ins Bewusstsein: „Unsere Gottesdienste leben vom Miteinander der Menschen. Der Kirchenraum soll deshalb mehr als bisher Kommunikation ermöglichen. Dazu gehört vor allem die Verbesserung der Kommunikation (während des Gottesdienstes) zwischen Pfarrer/in und Kantor. Der Raum soll aber auch ermöglichen, dass die Gemeindeglieder untereinander kommunizieren und in Aktion treten. Beweglichkeit und Flexibilität sind dafür notwendig.“[11]
Die Ordnung des Raumes wird dynamisch. So sind Kanzel und Altar beweglich, im Kirchenraum wird mit Ausnahme der Emporen auf Bänke verzichtet, die Altarinsel wird vergrößert. Es entstehen im Kirchenraum Zonen für Begegnung (Kirchencafé) und persönliche Andacht. Diese Dynamisierung des Raumes zeugt von einem Gottesdienstverständnis, dass nicht mehr enggeführt wird auf den Predigtgottesdienst, sondern das die Vielfalt liturgischer Feiern und Formen beinhaltet. Menschen kommen in unterschiedlichen Lebenssituationen und aus vielfältigen biografischen Anlässen zum Gottesdienst und die Gottesdienstlandschaft ist dementsprechend plural. Dem traditionellen Sonntagsgottesdienst treten Familiengottesdienste, Jugendgottesdienste u.a.m. zur Seite. „Wenn nun sowohl die Gottesdienstpraxis als auch die Lebensumstände und Biografien vielfältiger und vielschichtiger geworden sind, muss das auch in den Räumen, in denen Kirche feiert und lebt, zum Ausdruck kommen. Denn die Erfahrung des Heiligen braucht Zeit, Gestalt und Ort.“[12]
Der „heilige Bezirk“, von dem Herrmann Hampe 1959 sprach, wird dynamisch gestaltet. Zugleich aber brauchen Kirchen in ihrem Inneren Fixpunkte und Ordnung, deren performative Funktion die „elementare Abwehr von Chaos“ (Thomas Erne) ist. Auch der dynamische „heilige Bezirk“ der Friedenskirche kommt ohne ein Mindestmaß an Statik nicht aus. Die Vielfalt der Gottesdienstformen und die Pluralität der Biografien und Situationen braucht eine gemeinsame Verankerung. So findet 2012 das restaurierte Taufbecken von 1910 seinen festen Ort in der Mitte der Gemeinde. Gemeinde versteht sich von der Taufe her und feiert von diesem Taufereignis vergegenwärtigt in der Dynamik des Lebens die Gottesbeziehung. Diese liturgische Vergegenwärtigung ist je neu zu gestalten. Der Kirchenraum wird mit seiner Dynamik und Wandelbarkeit selbst als ein Ort der Verkündigung belebt. Der Raum predigt.
Der „predigende“ Raum
Jeder Kirchenraum ist Text.[13] Die architektonische Form, die Bilder, die Möbel samt ihrer Anordnung, die Inschriften einer Kirche sind die Zeichen bzw. das Repertoire des Raumes, das die Oberflächenstruktur des Raumtextes bestimmt. In sie eingeschrieben sind aber die Spuren vergangener Gottesdienste, Erzählungen, Erfahrungen im Raum. Auch sie gehören in die Textur des Raums und bilden seine Tiefenstruktur. Räume und Texte wirken nicht an sich. Sie sind mehr als ihre Semantik und Syntax. Ihre Wirkung und Bedeutung entfalten sie erst im Rezipienten, der ihnen mit eigenen Erfahrungen begegnet und in ihnen neue Erfahrungen macht. Dabei gibt es in Bezug auf das Lesen eines Raumtextes keine Analphabeten, wie Rainer Volp zutreffend formuliert hat:
„Weil Räume alle Menschen ‚lesen‘ können, Analphabeten noch mehr als Literaten, ja auch Blinde, ist es für Liturgen unerlässlich, die Syntax von Räumen, das heißt die Struktur an der Oberfläche zu verstehen. Diese repräsentiert eine aus geschichtlichen Situationen hervorgegangene und in vielen weiteren Situationen verfestigte Tiefenstruktur … So wenig Kirchenräume an sich schon die Präsenz Gottes dinglich festhalten, sowenig sind sie Wegwerfware im Sinne eines aufgeputzten Kinos oder Warenhauses. Jeder Umgang mit ihnen ist ein Umgang mit durch Gotteserfahrungen geheiligten Texten. Sie atmen etwas von Gotteserfahrungen, welche in der Musik, Bild, Ritual und Rede verstärkten Textur zu einer ergreifenden Lektüre geraten können.“[14]
Der Raum predigt als Herberge vergangener Gotteserfahrung. Er tut dies nicht nur im Gottesdienst der Gemeinde, sondern auch außerhalb gottesdienstlicher Versammlungen, wenn Menschen sich in ihm aufhalten, ihn begehen, in ihm verweilen oder Andacht suchen. Liegt die Wirkung des Raumes beim Betrachter/der Leserin und ist er damit für den Arrangeur des Raumes unverfügbar, so kann doch die Gestaltung des Raumes Erfahrungen, insbesondere religiöse Erfahrungen, ermöglichen oder verhindern, erleichtern oder erschweren. Denn Räume wirken unterschiedlich.
Es ist daher nicht egal, wie Räume gestaltet sind. Und bei jeder Neugestaltung eines alten Raumes sind die vergangenen Gestalten und Erfahrungen zu berücksichtigen. Eine „gelingende“ Wirkung kann ein Raum bzw. ein Text nur haben, wenn sein Repertoire, seine Elemente untereinander sinnfördernd in Beziehung stehen. Es ist demnach nicht gleichgültig, wie z.B. Altar, Taufe, Kanzel und Orgel zueinander in Beziehungen gesetzt werden, ebenso beeinflusst es die Textur des Raumes welche Bilder, Worte und Texte an welchen Orten im Raum platziert sind. Auch die Anordnung der Stühle oder Bänke ist ein Element des Textes und hat damit Einfluss auf den „Leser“ bzw. Rezipienten, der sich im Raum bewegt bzw. platziert.
Insofern also der Raum Text ist, gelten für sein Erleben dieselben rezeptionsästhetischen Bedingungen wie für die Predigt, die in ihm gehalten wird oder die Liturgie, die in ihm gefeiert wird. Auch diese entfalten ihre Wirkung nicht in ihrem textimmanenten Sinnzusammenhang, sondern in dem, was die Gemeinde in sie hinein hört und denkt.[15]
Betrachten wir den Kirchenraum der Friedenskirche unter den genannten Gesichtspunkten, so erschließt sich zum einen, dass jede Renovierung mit Schmerzen verbunden ist, da aus dem Raumtext Elemente vergangener Gotteserfahrung ausgestrichen werden. Zum anderen zeigt sich, dass die jüngste Renovierung einen Teil dieser Elemente zu bewahren versucht. So wird 2012 der originale Taufstein von 1910 wiederhervorgeholt und die für die Kanzel von 1960 angefertigten Reliefplatten mit den Evangelisten-Symbolen erhalten einen eigenen Platz.
Zugleich erhält die neugestaltete Friedenskirche im Arrangement und im Charakter ihres neuen Repertoires eine Textur die einerseits in sich sinnstiftend ist, gleichzeitig aber für den Besucher als Rezipientin vielfältige Möglichkeiten bereithält sich mit den eigenen biographischen Erfahrungen in den Text einzuschreiben.
Besonders deutlich tritt diese bei der Altarraum und Orgelempore verbindenden Stufenanlage auf. Sie ist einerseits Ort des Chores und der Predigt, wobei das schmale, flexible bronzene „Kanzelband“ ermöglicht, dass schon räumlich eine Einheit zwischen dem Singen und Sagen des Gottesdienstes beschrieben wird. Zugleich ist dieser Stufenanlage ein Textfragment aus Hölderlins Friedensfeier eingeschrieben: „und nur der Liebe Gesetz gilt von hier bis in den Himmel, viel hat von morgen an erfahren der Mensch, bald aber sind wir Gesang.“ Dieser Text ist so gestaltet, dass nur einige der Worte (die hier fettgedruckten) für den Betrachter von unten erkennbar sind, die übrigen sind nur von oben lesbar. Nur wer die Stufen in Wellenwegen – quasi „bustrophädonal“ – abschreitet, kann den ganzen Text lesen. Mithin also liest der Besucher einen Text, dessen Textur selbst die Leerstellen zeigt, in die der Rezipient seinen Text in den Text „schreibt“. Der Einzelne und die Gemeinde wird zum Autor des Raumtextes, er ist eingeladen im Raum mit den Elementen zu spielen und in diesem Raum mit seiner Geschichte und allem was ihn bewegt einen Ort der Gotteserfahrung zu finden.
In diesen Zusammenhang der Bewegung fügt sich, dass auch der Altar in seiner Gestalt mehrdeutig und offen ist. Im hellen und schlichten Rauminneren, das abgesehen von den Fensterbildern und dem Text in der Stufenanlage keine ikonographische Gestaltung aufweist, ist er in seiner schwarzen Gestalt als Fels Blickfang und Fixpunkt. Der Kirchenraum ist wesentlich von geraden Linien, von Symmetrie und Geometrie geprägt, der Altar in „Felsgestalt“ist geradezu als Gegenpol dazu gestaltet. Er ist weder glatt, noch ist er eckig und kantig. Im Gegensatz zum hellen Raum ist er auf seiner Außenseite schwarz. Und lenkt gerade dadurch die Wahrnehmung auf sich. Er kann Ruhepol sein, und bewegt doch zugleich, denn er konfrontiert und ist in der kommunizierten Wahrnehmung vieler auch Stein des Anstoßes, ebenso wie das in ihn eingelassene Kreuz.
Aber der Altar erschöpft sich nicht in seiner äußeren Gestalt als Fels und Mensa. Er ist keine Einheit, sondern teilbar und mobil, besteht aus vier Teilen und ist im Inneren hohl. Nur wenn er bewegt bzw. geöffnet wird, offenbart er sein Geheimnis. Die Gestalt des Altars ist nicht mehr nur die einer Mensa, sondern zugleich Gebetsort.
Der Altarraum als „heiliger Bezirk“ ist in seiner Gesamtheit einerseits also gestaltet, andererseits aber bedeutungsoffen gehalten. Die Mobilität der Prinzipalstücke lässt sich dahin deuten, dass das Heilige und mithin die Gotteserfahrung im Raum nicht fixiert werden kann. Sie entsteht immer wieder neu und aktuell. Der Kirchenraum ist somit Erinnerungsort vergangener Gottesdiensterfahrung und Zeugnis ihrer Spuren und zugleich ist er aber Ort gegenwärtigen Feierns und Gottesbegegnung.
„Liturgie ist die Bauherrin“ (Cornelius Gurlitt, 1906)
Diese Diktum von des Architekten Cornelius Gurlitt vom Kirchbaukongress 1906 kann man als Ergänzung zum „Wiesbadener Programm“ lesen. Es „bewirkte eine Konvergenz zwischen liturgischen Reformen und archtektonischer Impulse.“[16] In Bezug auf Gurlitts Diktum ist allerdings festzustellen, das dies nicht einen einmaligen archtiektonisch-künstlerischen Prozess beschreiben kann. Der Raum wird eben nicht nur einmal konstruiert und gestaltet, sondern in immer wieder neuen liturgischen Prozessen. Bezieht man dieses Diktum daher auf die Liturgie in der Friedenskirche mit ihrem offenen „Text“, so steht die Raumgestaltung des Kirchenraumes in einer intertextuellen Beziehung zur Liturgie (ebenso wie auch zur Predigt). Im gefeierten Gottesdienst kommt es immer zu einem Zusammenwirken verschiedener Texte: Liturgische Text in Gebeten, Lieder, Sakramenten, dem Verkündigungstext der Biblischen Lesung, der Kirchenmusik und der Predigt, dem Raumtext sowie dem Eigentext (Anlass, Situation, Motivation) der Mitfeiernden.
Zugleich ermutigt die beschriebene Gestaltung des Kirchenraumes dazu, den Gottesdienst nicht ausschließlich als ein Wechselspiel von Gemeinde und Liturgen zu verstehen, das nicht ausschließlich auf der sprachlichen Textebene besteht. Die Gemeinde als Subjekt der Gottesdienstfeier ist nicht nur Zuschauerin im liturgischen Schauspiel des Pfarrers/der Pfarrerin, die durch liturgische Präsenz überzeugt bzw. performt. Sondern die Gemeinde ist die Performerin. „Gottesdienst ist Körperarbeit am Leib Christi.“[17] Insofern jeder Mensch körperlich und damit räumlich existiert, ja selbst Raum ist, bringen sich in den Gottesdienst lebendige Körper ein. Als lebendige Körper sind sie nicht nur wahrnehmende, sondern auch handelnde. Gottesdienst und Gottesdiensterfahrung ist mehr als Hören, sondern umfassende Körpererfahrung. Insofern handelt die Gemeinde im Gottesdienst hörend, sehend, riechend, tastend, sitzend, singend, gehend, essend. Anwesende Körper sind dabei immer zugleich Empfänger und Sender.
Weil die Gemeinde selbst als liturgisch handelnder Körper ins Bewusstsein tritt, konstituiert sie im Gottesdienst den Leib-Christi als Raum der Gottespräsens und -erfahrung. Der Kirchenraum ist daher in die Vorbereitung des Gottesdienstes nicht nur in Bezug auf den Bewegungsraum der Liturgin und des Chores einzubeziehen, sondern auch als Handlungsraum der Gemeinde. Dieser Handlungsraum kann dazu je nach Anlass und Thema unterschiedlich gestaltet sein, ebenso wie es unter diesen Grundannahmen keine eindeutigen Bedeutungszuschreibungen mehr geben kann. Die Stufenanlage kann zum Beispiel zum einen Himmelsleiter sein, aber auch Gottesberg oder der Berg der Verklärung u.a.m. Der Altar kann Abendmahlstisch, Krippenhöhle oder Gebetskasten werden. Das Gemeindeschiff kann Herberge, Wüste u.a.m. sein. Immer wieder ist der Raum als Repertoire des Gesamtextes „Gottesdienst“ einbezogen, in dem sich der einzelne leiblich und damit räumlich einbringt.
„Liturgie als Bauherrin“ dieses alte Diktum Gurlitts ist damit Programm für eine raumbildende Feier der Gemeinde, die immer wieder neu an ihrem Kirchenraum baut, vergangenes bewahrt und gegenwärtiges einschreibt und zukünftiges erwartet.
[1] WA 49,588 – sog. Torgauer Formel, gesprochen zur Einweihung der Schlosskirche von Torgau 1544.
[2] Vgl. dazu Klaus Raschzok, Spuren im Kirchenraum, in: ders., Traditionskontinuität und Erneuerung. Praktisch-theologische Einsichten zu Kirchenraum und Gottesdienst, Leipzig 2014, S. 219-237.
[3] Handbuch der Kirchenpädagogik. Kirchenräume wahrnehmen, deuten und erschließen, hg. H. Rupp, Stuttgart 2006, 24.
[4] Zit. n. E.-M. Prückner, Die Friedenskirche, in: 75 Jahre Friedenskirche Heidelberg-Handschuhsheim, 1985, S. 34-65, 38.
[5] Emil Veesenmeyer: Der Kirchenbau des Protestantismus und das sogenannte Wiesbadener Programm. Evangelisches Gemeindeblatt, Dillenburg 1895
[6] Peter Glenz, Das Wiesbadener Programm. Johannes Otzen und die Geschichte eines Kirchenbautypen zwischen 1981-1930, Kiel 2011, 42.
[7] Cornelius Gurlitt, Handbuch der Architektur IV/8 (Heft 1): Kirchen, Stuttgart 1906, S. 376
[8] Karlheinz Schoener, Der neue Altar-Raum, in: 50 Jahre Friedenskirche Heidelberg-Handschuhsheim, 1960.
[9] Ebd.
[10] Hermann Hampe, Alte und neue Baugestalt der Friedenskirche, in: Evangelischer Gemeindebote in Handschuhsheim, Sonntag, den 6. Dezember 1959, Nr. 209/210.
[11] Die Grundlagen für die Gestaltung des Kirchenraums, www.die-neue-friedenskirche.de/20.html (abgerufen am 12.2.2016).
[12] Monika Hautzinger, Vielfalt der Formen, auf: www.die-neue-Friedenskirche.de/30.html (abgerufen am 12.2.2016).
[13] Vgl. zum Folgenden Clemens W. Bethge, Kirchenraum. Eine raumtheoretische Konzeptualisierung der Wirkungsästhetik, Stuttgart 2015 (Praktische Theologie heute 140).
[14] Rainer Volp, Kirchenbau und Kirchenraum, in: Handbuch der Liturgik, hrsg. v. H.-C. Schmidt-Lauber u. K.-H. Bieritz, Göttingen, 21995, 490-509, 491.
[15] Vgl. dazu Albrecht Grözinger, Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft, Gütersloh 2005, S. 25ff; Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik, Tübingen u.a., S.316ff; Gunnar Garleff, Predigtarbeit als Spurensuche, in: ders., Spurensuche. Mit Fragen unserer Zeit der Bibel begegnen, Saarbrücken 2014, S.3-10.
[16] Volp, Kirchenbau, 498.
[17] Klaus Raschzok, Die Gemeinde im evangelischen Gottesdienst, in: ders., Traditionskontinuität und Erneuerung. Praktisch-theologische Einsichten zu Kirchenraum und Gottesdienst, Leipzig 2014, S.81-107, 102.