Vom Lorscher Hof …
Der Atzelhof hat eine lange Geschichte. Sie beginnt gewissermaßen mit dem Bau des einst reichen und mächtigen Klosters Lorsch: Im Jahre 765 schenkte ein Sigwin von hantscuesheim der im Aufbau befindlichen Reichsabtei einen Weinberg. Weil in der Urkunde über jene Schenkung der Namen des Dorfes erstmals in schriftlicher Form auftauchte, beging Handschuhsheim im Jahr 2015 sein 1250-jähriges Bestehen. Viele Menschen an vielen Orten folgten damals Sigwins Beispiel und versuchten sich himmlischen Lohn zu verdienen, indem sie dem Kloster Lorsch Teile ihres Grundbesitzes vermachten. Bald war die Abtei fast überall zwischen Alpen und Meer begütert. Nirgends aber wurden so viele Schenkungen durch das Kloster beurkundet wie in Handschuhsheim.
Wer Besitz an das Kloster übereignete, musste sich deshalb nicht von seinem bisherigen Eigentum zu trennen. Viele bewirtschafteten ihre Güter auf Lebenszeit oder sogar über Generationen weiter, waren aber nun dem Kloster Lorsch dienst- und abgabepflichtig. Deshalb brauchte das Kloster einen Platz in Handschuhsheim, an dem es die ihm zustehenden Pachtabgaben wie Getreide, Wein. Geflügel und sonstige Naturalien sammeln, lagern und aufbewahren konnte und errichtete auf dem Areal des späteren Atzelhofs den so genannten Lorscher Hof. Seine weitläufigen Stallungen, Scheunen und Vorratsräume bildeten den wirtschaftlichen Mittelpunkt der Besitzungen der Abtei in Handschuhsheim und Umgebung.
… zum Landeswaisenhaus
Als mit dem Einzug der Reformation die Kirchengüter in der Pfalz eingezogen und gemeinnützigen Zwecken unterstellt wurden, wurde der zum Lorscher Hof gehörende Besitz nicht zerschlagen, sondern einer völlig neuen Bestimmung zugeführt. Durch eine Stiftung des pfälzischen Kurfürsten Friedrich III. wurde 1575 das Landeswaisenhaus gegründet und im ehemaligen Lorscher Hof untergebracht. Dieser erfüllte nun einen doppelten Zweck: Er war das Zuhause für elternlose Kinder aus dem ganz Land, die dort streng im reformierten Glauben erzogen und auf das Leben vorbereitet wurden. Und er war weiterhin Abgabestelle für die Zinsbauern, die ehemals Lorscher Besitz bewirtschafteten. Deren Abgaben kamen nun dem Landeswaisenhaus zugute.
Während des 30-jährigen Krieges wurde das Waisenhaus wiederholt geplündert und teilweise zerstört. Von diesen Angriffen erholte es sich nie wieder. Die kriegerischen Auseinandersetzungen im 17. und religiösen Streitigkeiten zwischen Katholiken und Reformierten im 18. Jahrhundert führten dazu, dass das Landeswaisenhaus 1813 – damals war Handschuhsheim bereits badisch – gänzlich aufgehoben wurde. Letzter Waisenhausschaffner war Karl Franz Joseph Rottmann, der Großvater des bedeutenden Landschaftsmalers und bayrischen Hofmalers Carl Rottmann.
Danach wurde der Hof als landwirtschaftliches Anwesen, dessen Besitzer mehrfach wechselten, bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts weitergeführt.
Mustergültiger sozialer Wohnungsbau
Ende des 19. Jahrhunderts kam es in Heidelberg wie überall in Europa aufgrund der Industrialisierung zu großen Wanderungsbewegungen vom Land in die Städte. Den daraus folgenden explosionsartig steigenden Bedarf an Wohnungen für Arbeiterfamilien und Menschen der so genannten „unbemittelten Klassen“ konnte die Stadt kaum auffangen. Nach dem ersten Weltkrieg 1918 verschärfte sich die Situation, weil auch noch Tausende Flüchtlinge aus Elsass-Lothringen untergebracht werden mussten.
Die Stadt Heidelberg reagierte schnell, unter anderem mit der Erschließung des heutigen Stadtteils Pfaffengrund, und ließ in Bergheim so genannte Behelfsbaracken errichten, was allerdings nicht ausreichte. In Handschuhsheim gründeten am 3. März 1921 die Stadt Heidelberg, gemeinsam mit der die Heidelberger Straßen- und Bergbahn AG sowie mit einigen Privatpersonen die „Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft Atzelhof mbH“.
Den Anstoß dazu kam 1920 von mehreren Architekten, die einen entsprechenden Planungsentwurf für den Standort in Handschuhsheim vorgelegt hatten, der von den städtischen Gremien genehmigt wurde. Der Plan für den Atzelhof war in mehrere Bauabschnitte unterteilt, und seine Umsetzung dauerte von Mai 1921 bis 1928. Am Ende entstanden über 220 Wohnungen und mehrere Geschäfte. Angesichts der knappen finanziellen Mittel und unwägbaren wirtschaftlichen Entwicklungen jener Zeit stellten die Bauleistungen im Atzelhof eine enorme Leistung dar. In relativ kurzer Zeit unter Verwendung qualitativ hochwertiger Baustoffe und in architektonisch überzeugender Gestaltung realisiert, nimmt der Atzelhof eine Sonderstellung unter den Heidelberger Siedlungsbauten anfangs des 20. Jahrhunderts ein.
Die für Arbeiterfamilien erstellten Zwei- bis Vier-Zimmer-Wohnungen hatten mit den damals üblichen „Mietskasernen“ nichts gemein. Pro Etage nur zwei Wohnungen Statt endloser dunkler Flure, Balkone zu jeder Wohnung, Kinderspielplätze im Innenhof und dekorative Fassadengestaltungen sind Belege dafür, dass die Baugesellschaft sowohl dem Respekt gegenüber den Mietern als auch einem attraktiven Straßenbild Rechnung trug. (jb)