Der Atzelhof steht unter Denkmalschutz und schenkt auf besondere Weise Einblicke in seine Entstehungszeit in den 1920er Jahren. Er versinnbildlicht die Bemühungen der Stadt und ihrer Bürger, auch den finanziell Schwachen der Gesellschaft einen Platz in ihrer Mitte zu schaffen.
Industrialisierung und Urbanisierung
Ende des 19. Jahrhunderts kam es in Heidelberg wie überall in Europa aufgrund der Industrialisierung zu großen Wanderungsbewegungen vom Land in die Städte. In Mitteleuropa wuchs in jener Zeit die Bevölkerung rasch, denn dank verbesserter Anbaumethoden in der Landwirtschaft und der Entwicklung von Kunstdünger stieg die Lebensmittelproduktion enorm. Auch in der Medizin gab es wesentliche Fortschritte. In Folge dessen gingen Hunger, Mangelernährung und somit die Mütter- und Kindersterblichkeit zurück. Gleichzeitig wuchsen fast überall die Städte und in ihnen die Fabriken, die für hoch rationalisierte Arbeitsmethoden keine Experten oder Facharbeiter benötigten, sondern einfach nur sehr viele Arbeitskräfte.
Soziale Situation in Heidelberg
Heidelberg war davon genauso betroffen. Immer mehr Menschen drängten in die Stadt, die wie andere den explodierenden Bedarf an Wohnungen nicht auffangen konnte. Die Zugezogenen waren in der Mehrheit einfache, ungelernte Arbeiter, die über nur sehr geringe Löhne verfügten. Für Miete blieb nicht viel übrig. Die Masse an verfügbarer Arbeitskraft drückte entsprechend das Lohnniveau. In dieser Zeit entstanden Mietskasernen mit meist völliger Überbelegung und mit miserablen hygienischen Bedingungen. Schon 1896 hatte eine große Untersuchung der Stadt Heidelberg über die Wohnungsverhältnisse der „unbemittelten Klassen“ ein „recht trübes Bild der hier in Bezug auf Arbeiterwohnungen herrschenden Noth“ ergeben (Aus der damaligen Heidelberger Zeitung vom 24. Feb. 1896).
Flüchtlinge aus Elsass-Lothringen
1911 forderte eine Versammlung des Heidelberger Mietervereins billigeren und gesünderen Wohnraum. An die Stadt wurde der Wunsch herangetragen, billiges Baugelände zu erwerben und dann günstig an Bauinteressenten weiterzugeben.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 ließ diese soziale Frage jedoch bis auf Weiteres in den Hintergrund rücken. Mit Ende des Krieges 1918 verschärfte sich die Situation jedoch zusehends, denn Tausende Flüchtlinge aus Elsass-Lothringen mussten untergebracht und versorgt werden.
Die Stadt reagierte schnell, unter anderem mit der Erschließung des Pfaffengrunds, und ließ in Bergheim so genannte Behelfsbaracken errichten, was allerdings nicht ausreichte. Doch die Nachkriegsjahre waren wirtschaftlich äußerst schwierig, es fehlte vor allem an Kapital, während die Kosten unter anderem für Baumaterialien extrem stiegen.
Paul Rottmann, Stadtbaurat in Heidelberg, bezifferte den dringendsten Wohnungsbedarf auf rund 1.100, bei geschätzten Kosten von gut 60 Millionen Mark. Und weil die Renditeerwartung angesichts der hohen Kosten niedrig waren, kam man überein, dass in erster Linie gemeinnützige Wohnbauunternehmen Abhilfe schaffen könnten.
Nicht billig, sondern menschenwürdig
Die bedürftige Bevölkerung als künftige Mieter hatte wenig Geld. Also lag der Gedanke nah, dass die neuen Wohnungen entsprechend billig zu bauen seien hinsichtlich Baumaterialien oder dem Zuschnitt der Wohnungen. Doch in Heidelberg besann man sich anders. Bürgermeister Richard Drach befand, dass „wir nur vorwärtskommen können, wenn wir die Siedlungsfrage als Kulturfrage auffassen.“ (Heidelberger Zeitung, 26. Jan 1921). Der Anspruch, dass also auch die finanziell Schwächeren in Heidelberg ein Anrecht auf lebenswerten Wohnraum haben sollten, war mit dieser Aussage gewissermaßen verbürgt.
Gründung der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft
Am 3. März 1921 schlossen sich die Stadt Heidelberg, die Heidelberger Straßen- und Bergbahn AG sowie einige Privatpersonen zur Gründung eines Wohnungsbauunternehmens zusammen: die „Gemeinnützige Siedlungsgesellschaft Atzelhof mbH“. Den Anstoß dazu hatten 1920 mehrere Architekten mit einem der Stadt vorgelegten Planungsentwurf gegeben, in dem der Standort in Handschuhsheim bereits ausgewählt war. Die städtischen Gremien genehmigten den Plan.
Allerdings erschwerten Einsprüche vieler Handschuhsheimer gegen die massive Bebauung, die galoppierende Inflation, explodierende Baupreise, Kapitalmangel und ein kompliziertes Baurecht den Baubeginn erheblich.
Der Standort Atzelhof
Der Name Atzelhof leitet sich vom umgangssprachlichen Namen für Elstern – also Atzeln – ab, die damals auf dem Bebauungsgrundstück nisteten.
Zu Beginn der 1920er Jahre war die südliche Peripherie Handschuhsheims, 1903 eingemeindet, für die Stadtplaner ein begehrtes Gebiet zur Wohnbebauung. An der Nahtstelle zu Neuenheim bestanden nämlich noch mehrere Freiflächen, auf denen größere Bauvorhaben verwirklicht werden konnten. Auf dem ersten Übersichtsplan zur Bebauung des Atzelhofs vom Mai 1921 war ersichtlich, dass dieses Gebiet zur verdichteten, mehrgeschossigen Bebauung mit großen Wohnblöcken vorgesehen war. Es standen bereits einige zwei- bis viergeschossige Häuserzeilen, beispielsweise in der Handschuhsheimer Landstraße sowie in der Grahamstraße.
Der Plan für den Atzelhof war in mehrere Bauabschnitte unterteilt, und seine Umsetzung dauerte von Mai 1921 bis 1928. Am Ende entstanden über 220 Wohnungen und mehrere Geschäfte. Angesichts knapper finanzieller Mittel und unwägbarer wirtschaftlicher Entwicklungen stellen die Bauleistungen im Atzelhof eine enorme Leistung dar. In relativ kurzer Zeit umgesetzt, unter Verwendung qualitativ hochwertiger Baustoffe und in architektonisch überzeugender Gestaltung nimmt der Atzelhof eine Sonderstellung innerhalb der Heidelberger Siedlungsbauten anfangs des 20. Jahrhunderts ein.
„Gemeinsam ist sämtlichen besichtigten Wohnungen das in Hinsicht auf die Volksgesundheit sehr beachtenswerte Streben nach Licht und Luft. (…) Auch die Bewohner des Atzelhofs erhalten durch den großen, im Innern des Gebäudes gelegenen Hof, der nach Beendigung des Bauplanes mit dem Naturpark in Handschuhsheim direkte Verbindung erhalten soll, Gelegenheit zur Bewegung im Grünen in nächster Nähe der Wohnung“, resümierte die Heidelberger Zeitung im Juni 1923.
Neuer Komfort für Arbeiterfamilien
Für bedürftige Familien wurden Zwei- bis Vier-Zimmer-Wohnungen erstellt, die mit so genannten Mietskasernen der damaligen Zeit nichts gemein hatten. Je Etage nur zwei Wohnungen statt wie üblich endlose, dunkle Flure, Balkone zu jeder Wohnung, Kinderspielplätze im Innenhof und dekorative Fassadengestaltung zur Straße hin sind einige der Merkmale, die zeigen, dass hier den Mietern Respekt gezeigt und einem attraktiven Straßenbild Rechnung getragen wurde.
Der erste Bauabschnitt (Alter Atzelhof) war das Grundstück zwischen der heutigen Rottmann- und Steubenstraße (damals Mittelstraße) sowie dem Dreieck, das südlich zur bereits bestehenden Bebauung lag. Baubeginn war im Mai 1921. Bis September stand der Rohbau, wegen eines sehr strengen Winters verzögerten sich die weiteren Innenausbauarbeiten jedoch erheblich. Hier entstanden 162 Wohnungen und zwei Läden.
Der zweite Bauabschnitt (Steubenstraße und Pfarrgasse) dauerte auch länger als geplant – unter anderen wegen Räumungsverfahren und Abrissarbeiten. Anfang 1928 schließlich wurde das gesamte Vorhaben mit fünf weiteren Häusern abgeschlossen.
Die GGH Heidelberg entsteht
Obwohl die Finanzlage schwierig war, galt das Vorhaben als Erfolg. Dazu trugen die Aufstockung des Grundkapitals der Trägergesellschaft bei sowie die Währungsreform von 1923/24. Die Stadt Heidelberg kaufte 1925 sämtliche Anteile an der Gesellschaft auf und fasste den Gesellschaftsvertrag neu. Aus der Atzelhof Gesellschaft entstand die „Gemeinnützige Gesellschaft für Grund- und Hausbesitz mbH in Heidelberg“. Somit hatte die Stadt eine 100-prozentige Tochter, die sich ausschließlich dem sozialen Wohnungsbau widmen sollte. In Zuge dessen wurden auch alle bisher in städtischem Besitz befindlichen Wohnungen auf die GGH übertragen.
Nach dem Atzelhof folgten zeitnah weitere Siedlungen und Quartiere in Handschuhsheim (die so genannte Blaue Heimat) sowie in Wieblingen, Bergheim und Kirchheim.
Heute besitzt die GGH Heidelberg über 7.000 Wohnungen in Heidelberg und steht nach wie vor für sozialverträgliches „Wohnen in bester Gesellschaft“. (ggh)